Freitag, 11. September 2015

Und der Ernst des Lebens beginnt...

September 8 

Morgens um 9 Uhr beginnt tatsächlich mehr oder weniger mein Unialltag. Bisher hat sich alles eher wie ein großer schöner Urlaub, oder ein Klassenausflug angefühlt.  Doch heute werde ich ganz offiziell in großen Hörsaal im "Department of Arts" begrüßt. Schon in den letzten Tagen habe ich gemerkt, dass ein Studium hier völlig anders anfängt. Zu Beginn eines Studiums entscheidet man sich zunächst nur für eine Fakultät, d.h. Naturwissenschaft (Science), Geisteswissenschaften (Arts) oder Business. In den ersten zwei Semesten müssen alle Studierende dieser Fakultät aus verschiedenen Teilbereichen Fächer belegen. So ist in Arts ein Englischkurs verpflichtend, nebenher wird dann aber noch Geographie, Geschichte, Sprachen, Psychologie usw. belegt. In Science sind entsprechend die grundlegende Fächer Chemie, Bio, Physik und Mathe zu belegen. Erst nach 2 Semestern entscheidet man sich hier dann für eine bestimmte Richtunge z.Bsp. das Studium der Literatur, Psychologie oder Geschichte. Auf der einen Seite gibt es einem Raum sich nicht wie bei uns direkt auf einen bestimmten Studiengang festzulegen, aber es bedeutet auch, dass man Kurse belegen muss, die gegebenenfalls nichts mit dem eigenen Studienwunsch zu tun haben. Während der Begrüßungszeremonie wird uns ein Film gezeigt. Auf den Hörsaaltreppen stehen zwei Mikrophone und die "Dean of Arts" (= Fakultätsleiterin) lädt uns ein den Film zu kommentieren. Es geht um die Studiensituation heutiger Studenten. Wer mich kennt - aus Uni oder Schule - weiß,, dass ich eigentlich immer meinen Senf dazu geben muss und deswegen stehe ich nach ein bisschen Überwindungsangst tatsächlich auf und stelle mich vor 300 Mitstudenten und einige Professoren und sage, was ich zu sagen habe. Dass immer von uns erwartet wird, dass wir wissen was wir nach unserem Studium machen möchten. Dass von uns erwartet wird ein klares Ziel vor Augen zu haben. Ich muss doch wissen mit was ich später mein Geld verdienen möchte. Genau das habe ich nicht. Ich merke nur, dass ich mit meinem Studium meiner Leidenschaft nachgehe, Spaß habe, interessiert bin und mehr wissen und lernen will. Ich sage, dass ich der festen Überzeugung bin, dass ich mit genau dieser Leidenschaft und Motivation meinen Platz in der Berufswelt finden werde. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, weil ich vor Muttersprachlern in Englisch versuche auszudrücken, was auf Deutsch so leicht fällt. Ich höre auf zu sprechen und bekomme sogar einen kleinen Applaus. Ich bekomme direkt Gänsehaut. Mein Kopf ist vermutlich knallrot - so fühlt er sich zumindestens an. Den Nachmittag verbringe ich ganz entspannt. Ich gehe wieder in die Gym und wasche das erste Mal meine Wäsche im Waschsalon des Wohnheims. Dass nach einer (bezahlten) Runde im Trockner alle meine Sachen immer noch klitschnass sind und ich sie über mein ganzes Zimmer verteilen muss, sei nur am Rande erwähnt. Abends lass ich mich tatsächlich noch dazu motivieren auf eine Party zu gehen. Auch wenn diese Mal wieder auch für alle unter 19 Jährigen ist und daher nur alkoholfreie Getränke serviert werden. Die Party findet in einem Hotel in der Stadt statt. Lange halte ich es aber nicht aus. Meine Beine tun weh und vorallem gibt es nur Wasser kostenlos (und das bei 20$ Eintritt, absolut lächerlich). Ich fahre mit den anderen im Shuttlebus zurück zur Res und erkläre den Tag für beendet. 
unsere Toasterstation für das Frühstück

Waschsalon
        
 
Hotelparty






September 9 

Heute beginnt der Unispaß so richtig. Mein erster Tag mit Kursen. Die ganze Woche über habe ich mich ja schon irgendwie wieder gefühlt wie ein Ersti. Als ich an diesem Morgen aufstehe, fühle ich mich wie an meinem ersten Schultag - wo ist meine Schultüte? Ich stehe extra früh auf, damit ich auch ja pünktlich im Klassenraum um 10 am ankomme. Den Raum muss ich nämlich erstmal noch finden. Mein erster Kurs heißt "Literary Theory I" und als mein Professor reinkommt, bin ich ein wenig verzückt. Nicht nur, dass er seine Arbeit absolut zu lieben scheint, nein er sieht auch noch ganz ansehnlich aus. Als ich die Inhalte des Kurses höre, bekomme ich richtig Lust los zu legen. Plato, Aristoteles, Percy B. Shelley, Nietzsche. Viele der Autoren habe ich nie im Original gelesen, daher freue ich mich. Im selben Moment weiß ich aber, dass dieser Kurs keine einfache Sache wird. Als ich dann höre, welche Leistungen ich erbringen soll, muss ich mich wirklich zusammen reißen nicht direkt wieder aus dem Raum zu rennen. In 3 Monaten soll ich zwei 8seitige, ein 14seitiges Essay und ein Examen schreiben. Und das ist gerade mal meiner erster Kurs. Mal sehen wie das weiter gehen soll. Nach einer kurzen Einführung lässt uns der Prof schon gehen. Ich stelle mich persönlich vor und erkläre, dass ich internationale Studierende bin. Sowieso gestaltet sich die Student - Professor - Beziehung ganz anders. Es geht darum persönlichen Kontakt zu haben. Man wird immer wieder eingeladen und gebeten in die Sprechstunden zu kommen, auch um sich einfach nur zu unterhalten und sich kennen zu lernen. Es geht darum, dass Professoren wissen wer da vor ihnen sitzt. Nicht nur einen Namen, sondern auch besondere Interessen, Fähigkeiten, aber auch Problematiken. Ich bin begeistert von dieser Grundeinstellung und finde, dass sich da der ein oder andere JLU-Prof eine Scheibe abschneiden dürfte. Mein zweiter Kurs an diesem Tag (übrigens alle Kurse dauern 1 1/2 Stunden und finden im zweitägigen Rhythmus statt) heißt "The Post- 1945 British Novel" und beschäftigt sich mit Nachkriegsliteratur aus Großbritannien. Mein Professor ist Brite (toller Akzent!) und auch er lädt uns alle wieder ein doch auf ein Pläuschen in sein Büro zu kommen. In der Vorbesprechung fällt mir auf, dass ein mehr oder weniger große Wissenlücke bei meinen kanadischen Mitstudierenden besteht was die Geschehnisse des zweiten Weltkriegs angehen. Dinge, die ich für zu Allgemeinwissen zähle, werden hier noch einmal detailliert erklärt. Themen wie den Sieg der Allierten in 1945 etc. ... Ich bin gespannt wie viel Vorwissen ich tatsächlich schon in diesen Kurs mitbringen werde. Auch hier darf ich wieder zwei Klausuren, zwei Essays/Hausarbeiten und ein Quiz schreiben. Ich frage mich langsam wie das funktionieren soll. Besonders ärgern mich die Anschaffungskosten für Buchmaterial. Ich muss wie es aussieht Material im Wert von über 300 € (!!!) besorgen für dieses eine Semester. Und diese Summer ist hier in Kanada absolute Norm. Als ob das Studium an sich nicht schon teuer genug ist. Ich bin mehr als froh, dass wir in Deutschland mit unsren 280€ Semestergebühr und den paar Druckkosten wirklich günstig wegkommen. Studieren auf Dauer in Kanada wäre für mich finanziellwohl kaum möglich bzw. würde ich genau wie fast alle Studenten hier nach meinem Abschluss jahrelang einen fetten Kredit abzahlen. In meinen beiden Kursen befinden sich höchstens um die 25 Studenten und vor allem sind diese alle in meinem Alter - endlich!

Campus

Uniflur 
Nach diesen beiden Kursen bin ich fertig für den Tag und irgendwie auch mit allem anderen. Ich bin tot müde, aber anstatt mich auszuruhen, fahre ich mit Marc, Lucille und Celine zum Supermarkt und kaufe tatsächlich das erste Mal Bier in Kanada. Nach diesem Tag wollen wir uns das erste Mal ein Feierabendbier erlauben (nach den vielen Wasserpartys). Wir bezahlen für 12 Dosen Bier ca. 18€ und für die billigste Flasche Wein ca. 8€ .. man sollte meinen, dass dieser dann auch besonders gut schmeckt. Leider nicht. Er schmeckt wie unser 2€ Wein. In Kanada darf man Alkohol nicht öffentlich auf der Straße konsumieren und auch der Transport sollte nicht so offensichtlich geschehen. Genauso im Wohnheim. Unter 19 Jahren darf man sowieso nicht trinken und man darf auch nur eine bestimmte Menge an Alkohol mit auf den Flur nehmen. Niemals mit geöffneten Getränken durch verschiedene Stockwerke, sondern nur mit einem Becher (mit Deckel) vom eigenem Zimmer in die Lounge. Ehrlich gesagt stimmen wir Europäer alle darüber ein, dass wir uns irgendwie beschränkt fühlen. Der Konsum von Bier usw. gehört zu unser Kultur in einem gewissen Sinne dazu. Diese ganzen Regeln und das Getue sind uns daher irgendwie fremd. Besonders weil wir wissen, dass die unter 19 Jährigen trotzdem heimlich trinken und kiffen und sich dann sobald sie 19 werden nur noch abschießen. Wir vermuten, dass das auch unmittelbar mit dem Gefühl zusammenhängt, dass die Kanadier irgendwie "unreifer" sind bei ihrem Unistart. Alles dreht sich um Party und Trinken. Wenn wir mir der Uni beginnen, ist diese Phase meistens schon überstanden oder hat sich mehr oder weniger gelegt. Würde ich mal sagen bzw. fühlt es sich gerade so für uns an. Natürlich kann ich da auch ganz falsch liegen. Auf jeden Fall genießen wir an diesem Abend unser erstes kanadisches Bier (das ganz ok ist). 

September 10

Mein zweiter Unitag beginnt wieder mal um 10 Uhr morgens, so wie er jeden Tag beginnen wird. Heute habe ich zwei Kurse. Zunächst einen Kurs, der sich "Masterpieces of Western Literature" nennt. Als uns unser (sehr, sehr netter) Professor erklärt, dass dieser Kurs sich ausschließlich um Goethes Faust drehen wird, bin ich absolut begeistert. Faust aus einer ganz anderen Perspektive studieren zu können, bringt so viele interessante Aspekte mit sich. Schließlich ist es auch schon eine ganze Weile her, dass ich Faust gelesen habe - um die 5 Jahre. Besonders freue ich mich darauf verschiedene Opern-, Film-, und Theaterversionen zu betrachten. Dass die Opern teilweise in Deutsch sind, macht das ganze noch witziger. Da dieser Kurs nur auf einem "2000er" Level statt finden wird, muss ich nur 2 Essays, einen Test und ein Examen schreiben. Nur. Haha. Anschließend habe ich einen Kurs der sich "World Literature in English: African Women's Writing" nennt. Wir sind tatsächlich genau 8 Leute in diesem Kurs, die alle gemeinsam an einem runden Tisch sitzen werden. Ich freue mich besonders auf diesen Kurs, weil ich von Literatur aus Afrika so gut wie keine Ahnung habe und es ein ganz neues Feld für mich eröffnet. Auch hier darf ich einmal mehr zwei Tests, zwei Essays und eine Präsentation einbringen. Damit wären wir bei 9 Hausarbeiten/ bzw. Essays, 7 Tests/ Quize, 2 Finalexams und einer Präsentation bei nur 4 Kursen. Dann wollen wir mal anfangen los zu legen. 
Um an diesem Abend meinen Kopf frei zu bekommen gehe ich gemeinsam mit Lucille, Solene und Amanda zu einem Kurs im Gym. Das ganze nennt sich "Zumfit" und innerhalb von 45 Minuten schwitze ich so viel, dass ich danach mein Shirt ausringen kann. Der Kurs steht für die kommenden Wochen fest im Programm. Bei den ganzen Kopfaufgaben, muss man ja irgendwie einen Ausgleich beibehalten. 

Wundert euch also nicht, wenn es in der nächsten Zeit ein wenig ruhiger wird. Wahrscheinlich habe ich mich in der Bibliothek oder meinem Zimmer eingeschlossen und studiere Faust, afrikanische Literatur oder vielleicht auch vor Verzweiflung einfach meine Tapete. 

Einer meiner Klassenräume auf der rechten Seite

Der Bibliotheksflur